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Bockiger Abgesang – Über Covidioten und andere Menschen

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Über Außenseiter macht Mensch sich gern lustig. Und Visionäre gehören in die Klapse (sinngemäß Helmut Schmidt). So gesehen sind 30 Jahre Botho Strauss ein ganz besonderes Jubiläum. Wie das eine mit dem anderen verknüpft ist, dazu weiter unten mehr. In meinem Archiv liegen zwei Texte. Der eine fast 30 Jahre: „Anschwellender Bocksgesang“ aus 1993. Der andere etwas frischer: „Der Plurimi Faktor“ aus 2013. Verfassser ist Botho Strauß, Schriftsteller und Dramatiker. Was ihn meiner Meinung nach auszeichnet, ist ein sezierender Blick auf die Gesellschaft. Wortgewaltig und intellektuell hochgerüstet zerlegt er menschliches Verhalten und hält uns froh den Spiegel vor die Nase. Anstrengend durchaus, keine leichte Kost sicherlich.

Hier soll es nicht um eine Auseinandersetzung mit den beiden Artikeln gehen. Das maße ich mir nicht an. In ihnen tauchen aber Anmerkungen auf, die für die momentane, außerordentliche Situation in viralen Zeiten relevant sind. Und es sei mir erlaubt, mich an diesen Anmerkungen entlang zu hangeln – unterstützen sie doch meine Sicht auf die Gesellschaft im Ausnahmezustand.

Der Ausbruch

Nur Tage vor dem Einschlag sieht eine ganze Nation rot. Abgesehen davon, dass der zeitliche Vorsprung seit dem Ausbruch in China fast drei Monate beträgt. Ein sehr luxuriöser Vorsprung für Politik und Gesundheitswesen – finde ich. Nun lässt es sich nicht mehr ändern, weil zögerliche Beamte und rückversichernde Politiker gnadenlos Zeit verstreichen ließen. Strauss nennt dies einen „politisch-technischen Selbstüberwachungsverein“(A).

Die Schwächen des Systems, die Fehlbedarfe, die mangelnden personellen Strukturen, das „kostenoptimierte“ und „beste Gesundheitssystem der Welt“ – ein Kartenhaus. Ein tödliches Kartenhaus. Kaputt gespart, Mitarbeiter demoralisiert, Vorräte Fehlanzeige. (Keine Sorge, das wird kein Jammer-Thread.)

Es gibt auch Solidarität und Hilfsbereitschaft. Aber die hilft nicht gegen den Killervirus. Strauss dazu: „Sicher ist, dieses Gebilde braucht immer wieder wie ein physischer Organismus den inneren und äußeren Druck von Gefahren, Risiken, sogar eine Periode von ernsthafter Schwächung, um seine Kräfte neu zu sammeln, die dazu tendieren, sich an tausenderlei Sekundäres zu verlieren.“(A)

Dumm nur, dass dieser Druck übermächtig ist und das „System“ zu zerlegen droht. Verflixt, dass auch noch so viel Geld keine Infrastruktur, keine Intensivmedizin und schon gar keine Fachkräfte kaufen kann. Nicht in dem benötigten Umfang und der zur Verfügung stehenden Zeit. „Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat (A)

Wohlgemerkt stammt dieser Satz aus 1993. Soviel zum Thema Visionen. Und soviel zum Thema, welche Werte und Institutionen in Krisenzeiten relevant sind. Menschen hören auf einen Virologen, der zum medialen Superstar wird. Er wird es, weil die politischen „Eliten“ weder Charisma haben. noch glaubhaft planvoll agieren.

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Der Mensch

Wenn es auch in einem anderen Zusammenhang in den Texten auftaucht, passen die Zeilen perfekt in die Zustandsbeschreibung eines Landes im Panikmodus. Das Land der Dichter und Ingenieure. Ja, und das Land der kleinbürgerlichen Egoisten und Klopapierhamsterer. Der oben avisierte Druck bringt das Wahre, Innere zum Vorschein. Die Fassade ist ab, der Vorhang ist gefallen. Jetzt geht es nur noch darum, seinen eigenen Arsch an die Wand zu bringen und selbigen mit Nudeln vollzustopfen. Die Urängste bringen das Wesen ans Licht. Hässlich, niedrig, dumpf. Strauss dazu: „Nach der Würde – ach, Leihfloskel vom Fürstenhof! – meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muss ich lange, wenn nicht vergeblich suchen.“(A)

Die Unbelehrbarkeit muss eine der biblischen Todsünden sein. So resistent, wie lästige Krankenhauskeime, kleinbürgert der freiheitsliebende Germane herum. Selbstverständlich sind die Hinweise zum Verhalten bei nahender Gefahr von Vater Staat (und Mutti Merkel) nur Kann-Hinweise. Disziplin und Beschränkung – oh, ihr widerwärtigen Worte! „Der heitere Idiot in der Welt der Informierten zu sein heißt, ohne eine Regung von Zukunftsunruhe, ohne Angst zu leben.“(P) Oder anders formuliert: Der nach unten offene Grad der Bildung ermöglicht ein sorgenfreies Ableben.

Linguisten sind nicht gerade im Tagesgeschehen wahrnehmbar. Doch schaffen sie es, Dinge auf den wortwörtlichen Punkt zu bringen: „Covidiot“

The definition of the word ‚Covidiot‘ is when a stupid person who stubbornly ignores ‘social distancing’ protocol, thus helping to further spread COVID-19. The word Covidiot also describes a stupid person who hoards groceries needlessly spreading COVID-19 fears and depriving others of vital supplies.

„Der COVIDIOT“ Die Definition des Wortes „Covidiot“ ist, wenn eine dumme Person, die das Protokoll der „sozialen Distanzierung“ hartnäckig ignoriert, zur weiteren Verbreitung von COVID-19 beiträgt. Das Wort „Covidiot“ beschreibt auch eine dumme Person, die Lebensmittel hortet, die unnötigerweise COVID-19-Angst verbreiten und anderen die lebenswichtige Versorgung vorenthalten.

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Die Gesellschaft

Völlig überfordert und gelähmt blickt der Homo Europaeus auf die sich auftürmende Welle am Horizont, die näher rückend alles zu verschlingen droht. Es ist im wahrsten Wortsinn unfassbar und unbegreifbar. „Auch im Begreifen liegt immer etwas Gestriges. Wir begreifen ja das Neueste in vorgeprägten Formeln, die längst abgegriffen sind.“(P) Das Unbekanntes ängstigt, weil es nicht einzuordnen ist, folgt logisch. Und wie geht eine satte, reiche, „zivilisierte“ Gesellschaft nun damit um?

Hilft nun das volle Regal, das dicke Konto, das große Auto? Sind die ökonomisch gedrillten Menschen nunmehr mit Dingen ausgestattet, die eine dreiwöchige oder dreimonatige Quarantäne überstehen helfen? Ich wage es zu bezweifeln. Beginnen wir damit, dass es wohl schon schwerfällt, nichts zu tun. All die ach so gestressten Berufstätigen jaulen, dass sie nunmehr zuhause (!) ausruhen (!) müssen. Couch Potato wird Ouch Potato. Weiter geht es mit der drohenden Langeweile. Bitte? Wie geht das denn? Endlich mal das Buch lesen, was noch original verpackt im Regal liegt, endlich mal den Papierberg wegheften und ausmisten. Überflüssiges, Ballast definieren und für den Abtransport markieren. Die Frühlingssonne auf dem Balkon genießen. Usw, usf.

„Nach Lage der Dinge dämmert es manchem inzwischen, daß Gesellschaften, bei denen der Ökonomismus nicht im Zentrum aller Antriebe steht, aufgrund ihrer geregelten, glaubensgestützten Bedürfnisbeschränkung im Konfliktfall eine beachtliche Stärke oder gar Überlegenheit zeigen werden.“(A) Nach dem Runterkommen, dem Ausstieg aus dem Hamster(!)rad vielleicht eine willkommene Gelegenheit, sich seiner selbst zu besinnen. Vielleicht drängen sich dann die eigenen bösen Geister auf, die sich prima im Alltagsgetriebe versteckten ließen. Nutzen Sie doch die Gelegenheit, über sich, Ihr Leben und Ihre Ziele nachzudenken. Passt gerade ganz gut.

Und es bringt nichts, stündlich die Fallzahlen und Infektionskurven zu googeln. Davon wird es auch nicht besser. „Die großen Schrecken der Welt zählen zu den geringsten unter den Sensationen, die sich dem letzten einzelnen, dem Idiotes, aufdrängen.(P) Es sei denn, der Schrecken der Welt klopft laut an die eigene Tür…

Der Leser

Dank dem Leser für das Durchhaltevermögen. In Zeiten von „LOL“ und „HDL“ sind drei Seiten Text schon heftig. Vielleicht haben Sie ja auch eine Meinung, etwas zu sagen, resp. zu schreiben. Zögern Sie nicht, denn Kommunikation ist keine Einbahnstraße.

abendfarben@web.de

Passen Sie gut auf sich und Ihre Lieben auf. Halten Sie sich an die Regeln, die ja gar nicht so schwer sind und bewahren Sie sich weiter ein sonniges Gemüt. Geduld und Ruhe sind nun erste Bürgerpflicht. Nutzen Sie die Zwangsauszeit sinnvoll und sinnenvoll.

Quelle der Zitate (A) aus „Anschwellender Bocksgesang“: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681004.html

Quelle der Zitate (P) aus dem „Plurimi Faktor“: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-104674126.html