… und dann kommt ein Anruf aus dem Jenseits

Wie geht der Mensch mit dem Verlust eines anderen Menschen um? Es gibt die Orte der Trauer dafür. Es gibt Rituale. Je nach Kultur und Geografie sind die Möglichkeiten verschieden. Und je nach der persönlichen Verbindung zu den Gegangenen findet jeder seinen Weg dazu.

Ein ganzes Leben

Mein bester Freund ist nach 30 Jahren, die wir uns kennen, im Krankenhaus verstorben. Ich war noch kurz davor bei ihm. Wir kennen uns drei Jahrzehnte, für mich ein ganzes Leben. Wir haben viel erlebt und auch durchgemacht. Und es war eine ganz wunderbare Erfahrung und Ergänzung, die es so sehr selten gibt. Also ist es sehr intensiv und bedeutend. Umso schwieriger ist für mich der Umgang damit. Lange habe ich überhaupt nicht gewusst, wie ich damit umgehen kann (und soll). Es war eine stillstehende Zeit. Vollgestopft mit zu erledigenden Dingen, Behörden, Papierkram. Und eine Zeit lang auch absichtlich vollgestopft mit Beschäftigung. Das ist sicherlich normal, eine Ablenkung zu suchen, weil das Thema so groß und gewaltig ist, dass kein sinnhafter Umgang möglich scheint. Kommt Zeit, kommt Rat.

Erinnerungen

Was bleibt, sind Erinnerungen und Ereignisse. Die ermöglichen einen schönen Rückblick und Halt. Also schreib ich Dir einfach einen „Brief“ damit. Und wer weiß, vielleicht habt ihr ja „drüben“ auch Internet und Du kannst ihn in aller Ruhe lesen. Das würde mich sehr freuen.

Meine Artikel oder Blogbeiträge hast Du gern geschmökert und wir haben darüber gesprochen. Du bist ein heller Kopf und schwer gebildet. Das gibst Du mir all die Jahre weiter. Ich habe den Begriff „wandelndes Lexikon“ nicht ohne Grund herangezogen. Es gibt kaum eine Frage oder Idee, zu der Du nicht etwas sagen kannst. Bücherfresser, Studiosus, Philosoph, Visionär bist Du. Voller guter und verrückter Gedanken und Ideen. Ein unerschöpflicher Pool, so scheint es mir.

Mr. Anzug

So haben wir uns kennengelernt. Du in Deinem unvermeidlichen Anzug immer schick und auf Aussehen bedacht. Ich in Jeans und Sweatshirt. Ja, das war auch Eitelkeit. Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen. Am liebsten wärest Du noch im Anzug zum Camping gefahren. Das konnte ich mit Mühe und Not verhindern. So saßen wir im D-Zug von Berlin nach Hause auf dem Gang und erzählten und schwadronierten. Die ganze Fahrt, ohne Unterlass. Und war haben gespürt, dass eine gemeinsame Wellenlänge vorhanden war. Bewusst vielleicht noch nicht, aber es war toll.

Wilde Wende

Manches findet sich, weil es seine Bestimmung hat. Ohne Zutun, ohne Aktion. Es war eine irre und berauschende Zeit 1989. Und wir mittendrin. Ab zur Demo, Abends in der Kneipe die Köpfe heiß geredet. Der Umbruch mit seinen wirtschaftlichen Folgen zerrieb die Gesellschaft und trieb die Menschen vor sich her. Wir haben die Gewerkschaftsjugend mit aufgebaut, waren dann Landeschefs und lernten jeden Tag von „den Wessis“ und den „bösen Kapitalisten“, wie das nun so läuft. Doch die Arbeitsplätze waren rar gesät. Bildung tat nötig. Beide kein Abi, du aus politischen Gründen, ich wegen Faulheit. Also auf nach Hamburg und studieren. Das ging damals noch ohne Abi, aber eben nur in Hamburg.

Hamburch, meine Perle

Allein die Suche nach einer Wohnung war ein Abenteuer. Im Bulli gepennt, dann die Zeitung gekauft, umhergefahren und endlich was gefunden. Nun aber auf schick gemacht, und so standen wir halbwegs zivilisiert vor dem dicken BigBoss. Dem gefiel Deine forsche Art und uns die Wohnung. Also großer Umzug in den Westen. Und dann ab an die Uni. Das war noch Lotterwirtschaft dort, wie da alle herumliefen! Das ging uns gegen den Strich. Also volles Programm: Wir waren die einzigen Studenten, die immer im Anzug und mit Krawatte aufliefen. Deine Idee, grandios. Und mit eben solcher Wirkung. Es kann nicht schaden, ein bisschen verrückt zu sein.

Wasser, Boote und so

Wo, wenn nicht am Ufer der Alster und Elbe, lässt es sich besser leben, wenn einen die Fortbewegung auf Flüssigkeit sehr gefällt. Wir haben beide eine Bootsmeise und sind schon als Kinder (als wir uns noch nicht kannten) auf allem, was schwamm, umhergefahren. Alle unsere Urlaube, die wir gemeinsam hatten, fanden schwimmenderweise statt. Zelt, Schlafsack, Kocher ins Faltboot gestopft und los ging die Fahrt. Du hast oft die Touren ausgetüftelt. So paddelten wir durch Meck-Pomm, die Elbe, den Rhein, die Mosel und noch viele Gewässer mehr. In Deutschland gibt es so schöne Ecken. Und wir haben viele davon gesehen. Ganz der Käptn und standesgemäß hast Du eine Kapitänsmütze getragen (mit Patent natürlich, was auch sonst…) Für Dich war ich immer die „Nummer 1“, wie in der Enterprise bei Picard und Riker. Wir lieben die Serie sehr und sie hat uns all die Jahre begleitet. Es war mir übrigens eine große Ehre, dass Du in mir Deinen ersten Offizier gesehen hast. Freundschaft hat viele Facetten.

Stein auf Stein

Wissen ist Macht. Das zeigte sich bei einem anderen großen Projekt, an dem wir teilnahmen. Ein Rohbau eines großen Hauses. In langer Arbeit haben wir das gemeinsam zu einem richtigen Haus ausgebaut. Ohne Deine Ideen und Dein Wissen zu Material und Maschinen wäre das nichts geworden. Einmal komplett mit alles, sozusagen. Außer Wänden und Dach war da nichts. Heute traue ich mir zu, ein Haus noch mal (aus) zu bauen. Dank Dir und ungezählten anstrengenden Stunden bei Wind und Wetter. Als der Rohbau noch nicht mal die Fenster drin hatte, meinte der Winter, uns testen zu können. Es war arschkalt. Aber wir haben ein Zimmer zur Wärmekammer umfunktioniert und der Unbill getrotzt. Ein bisschen verrückt…

Der Zahn der Zeit

Leider hat über die Jahre die Gesundheit bei Dir stark gelitten. Jetzt war es an mir, für Dich da zu sein. Einer trage des anderen Last. Der Spruch aus der Bibel und der gleichnamige Film, den wir so gern gesehen haben. Und auch das ist Freundschaft. Lange und ohne zu klagen (und das bewundere ich bis heute an Dir) bist Du durch das Tal gegangen. Hilfe ist Tat, nicht das Wort. Von Handreichungen bis zum teuren Alu-Faltrollstuhl, von Beschaffung notwendiger Dinge bis zur Pflege – es gab kein Zögern. Das war und bin ich Dir schuldig. So konnte ich Dir von dem etwas zurückgeben, was Du in mich investiert hast. Nur wer eine solche Zeit mitmacht, kann die Frustration der professionellen Pflegenden ob der Handlungsohnmacht der Politik wirklich verstehen. Ausdauernde Anstrengung zu jeder Tageszeit. Einer trage des andere Last. Doch alles hat ein Ende, so auch bei Dir.

… und dann kommt ein Anruf aus dem Jenseits

Ich fahre bei schönstem Wetter durch die schönste Stadt der Welt und das Telefon klingelt. Unbekannte Nummer. Ich geh ran und höre Dich. Die Verbindung ist ziemlich schlecht, kein Wunder bei der Entfernung. „Ich wollte Dir nur sagen, das ich gut angekommen bin und das ich es hier gut habe. Wir haben nur einen kurzen Anruf frei, die Nummer ist nicht zurückzurufen.“ Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, habe einen Kloß im Hals. Bevor ich in der Lage bin zu antworten, wache ich aus einem Traum auf und starre an die dunkle Decke des Zimmers. Nicht sicher, ob ich immer noch träume, mache ich Licht.

Das war ein sehr schöner Traum und es wäre wohl die großartigste und wundervollste Idee, die der liebe Gott, wenn es ihn gibt, gehabt haben könnte. Die Gegangenen dürfen ein Telefonat zu ihren Lieben hier führen und sagen, dass sie gut angekommen sind. Damit die Lebenden ihren Frieden finden und die Ruhe und Gewissheit haben, dass alles gut ist und seiner Bestimmung folgt.

Fast glaube ich, die Idee ist von Dir und Du hast in Deiner sehr überzeugenden Art mit dem alten Herrn da oben ein Gespräch zwecks Änderung der Regularien geführt und der hat gelächelt und mit einer jovialen Geste seinen Segen dazu gegeben. Zuzutrauen wäre es Dir, ohne Zweifel. Wenn es einer schafft, dann Du. Und nun sehe ich Dich wieder schelmisch grinsen, mit diesem Blick aus Wissen und Ahnung. Mit dem untrüglichen Gespür für Wege und Entscheidungen. Und mit der Prise – ach nennen wir es doch einfach gute Verrücktheit.

Wenn es Dein Plan war, liest Du nun die Bestätigung in dem Brief an Dich. Wenn nicht, ist die Idee trotzdem sehr betörend und ich lasse sie hiermit frei in den Raum und die Zeit. Vielleicht wird das ja noch was mit dem letzten Telefonat. Irgendwann.

Auf jeden Fall danke ich Dir für all die Jahre, all das Wissen und die schöne Zeit, die wir hatten. Und ich danke Dir für den Traum, der es mir nach den vielen Monaten ermöglicht, Dir eine gute Reise zu wünschen, nicht in Sorge um Deinen Verbleib zu sein. Und das ist doch etwas sehr Schönes, oder?